„Die Poesie des Zirkus ist ein Hochamt. Das war der Himmel über Berlin.“ (1987, Regie Wim Wenders).
Eines der schönsten Liebesbekenntnisse aller Zeiten in den Traumworten der Trapezkünstlerin Marion (Solveig Dommartin) an den gefallenen Engel Damiel (Bruno Ganz) gerichtet.
Als 1976 das erste Gastspiel des Circus Roncalli nach einem Streit der Gründer Bernhard Paul und André Heller enden musste und „die größte Poesie des Universums“ zunächst vom Aus bedroht war, war die Anteilnahme unter den begeisterten Münchnern sehr groß. Zu unserer Verwunderung, die wir hauptsächlich in der Jazz-Szene unterwegs waren, hieß es immer wieder, „ein Traum sei zu Ende gegangen“. Ikonische Figur der Zirkus-Poesie war der berühmte Clown Pic.
Über die oft schweren Jahre ist das Circus Theater Roncalli, wie es heißt, seitdem seit 2018 ohne Tiere gearbeitet wird, vom zarten poetischen Spross zur schillernden Orchidee eines klassischen Zirkus geworden: fulminant, begeisternd, international.
Bei der Roncalli-Premiere am Samstag, 14. Oktober, auf dem Platz hintern Umadum Riesenrad, der seit Jahren für ein großes Münchener Konzerthaus reserviert ist, blieb auch zahlreichen Prominenten wie Ulli Hoeneß, Paul Breitner, Sepp Meier, der „Katze von Anzing“ und Günter Sigl von den „Spiders“ der Mund offen.
Ein eigenes Ballett, das Roncalli Royal Orchestra unter Leitung von Georg Pommer, die Clowns, eine ausgeklügelte Technik in Light and Sound nebst holografisch imaginierten Elefanten am Anfang, all das ergänzt sich und fügt sich zusammen zu einem kompakten dramaturgischen System, das geschmeidig die großen Attraktionen auftauchen lässt, als wäre es zum ersten Mal: Sensation! Plötzlich, unverhofft ohne die Ankündigung eines Zirkusdirektors. Eine zweieinhalbstündige, ununterbrochene Linie des Staunens. Nicht einmal die Pause vermag es, das aufgeregte Publikum ganz in die Wirklichkeit zurücksinken zu lassen.
Es ist ein Triumph des Live-Acts.
Die Begrüßung durch den Bajazzo Gensi, eleganter Botschafter der Weltferne, wurde bereits „gestört“ durch die diesseitigen Clowns der liebenswerten Anarchie Jonny Rico und Anatoli Akermann, die sich in den Kegel des Follow-Spots drängen wollten, um das Publikum für sich zu gewinnen. Wie Anatoli im Lichtkegel erzittert, den die Regie mit einem Stroboskop-Effekt „unter Strom setzt“, ist schon großartig.
Es folgt der Einmarsch der lebenden Bilderrahmen, der dem Programm den Namen „All for ART for all“ gegeben hat. Der Mann mit dem Goldhelm von Rembrandt, das blaue Selbstbildnis von van Gogh, Frida Kahlo und Mondrian werden ins Rund getragen. Die Verbeugung vor der Kunst erfährt im ersten Solo-Act gleich darauf mit Maria Sarach im Mondrian-Kostüm alle denkbaren Über- und Verdrehungen des Körpers aus dem Handstand heraus – Verbeugung vor der Kunst nach der circensischen ART.
Nach einem kurzen Ballett zu Ehren des Surrealisten Magritte öffnet Daniel Lysenko den Raum der Zirkuskuppel, das Chapiteau, mit seiner Jonglage von bis zu elf Reifen, die nicht nur vertikal nach oben den Blick aufreißen, sondern auch in der Breite, da er es versteht die Reifen wie Bumerangs zurückkehren zu lassen.
Jonny Rico muss das anschließend natürlich konterkarieren mit einer Jonglage von roten Ping-Pong-Bällen, die in ihren Umlaufbahnen auch im Mund landen und wo er seine liebe Mühe hat, sie wieder ins rechte Bild zurück zu ploppen.
Das Duo Turkeev ist dann ein erster absoluter Höhepunkt in der artistischen Luftfahrt. Ihre „Aerialstraps“ stellen eine spezielle Erweiterung der klassischen Trapeznummern dar. Es gibt keine Stangen, alles funktioniert – kaum nachvollziehbar – an Seilen oder Seilpaaren. Gezogen und gedreht, durch die Kuppel im Kreis in der größten Höhe fliegend. Menschheitstraum vom Fliegen. Man könnte fast sagen, das Artistische tritt vor dem Traum der Schwerelosigkeit zurück.
Da führt uns Anatoli, mit der panischen Sirene seiner Entenhausener Quäk-Stimme, mit der er immer wieder Alarm schlägt und die ihm den Spitznamen „Wiu-Wiu“ gab, wieder zurück auf den Boden von Wirklichkeits-Unfug und Unfug-Wirklichkeit. Er hat auch gerne ein Kissen dabei. Auf seinem Kontroll-Rundgang durch die erste Reihe hat er etwas Problematisches entdeckt. Er feuert sein Kissen gegen einen Stützstempen, es explodiert mit silbernen Flittern und ein Scheinwerfer fällt aus seiner Sicherung und bleibt gerade noch am Stromkabel hängen. „Grande Katastroph“. Er schnappt sich einen Zuschauer. Der muss jetzt den Stempen sichern und Anatoli bindet ihn zusätzlich daran fest und dann fixiert er gleich noch eine ganze Gruppe drum herum. Am liebsten würde er das ganze Zelt evakuieren. Er erklärt die gefährliche Situation. „Wiu-Wiu, Wiu-Wiu!“ Der Zuschauer hat verstanden und antwortet laut und vernehmlich: „Wiu-Wiu“. Das ist wunderbar, it´s wonderful.
Da ist der erste Teil dieses Roncalli-Traums noch gar nicht vorbei und wir, die wir mit den geringeren Mitteln der Sprache nicht gleichziehen können mit der Genialität eines ganzen Zirkus und auch nicht alles verraten wollen, versuchen zum Schluss dieser Hymne an den ewigen Zirkus den Überblick zu gewinnen: In der gleichbleibend klugen Dramaturgie blieben wir gefesselt, verzückt, ungläubig staunend. Das Roncalli Royal Orchestra brillierte punktgenau in allen möglichen Stilistiken: Sicher in der Tarantella, mit der es Gensis lächelnde Weltferne colorierte über Rockballaden und Jump ´n´ Jive im Lous Prima-Sound, Motown-Soul, Dance-Floor bis wieder zurück zu Musiken aus der Zeit, als die Bilder laufen lernten, immer mit eigenem Zuschnitt und ohne platt zu covern.
Und was die Körper nicht alles konnten! Sie wurden aus Schleuderbrettern geschossen, katapultierten sich auf gefederten Stelzen in einem wirren Luftballett durch den Raum oder verformten sich als Paar in erotischer Equilibristik auf dem weißen Flügel eines Liberace, der seine Perücke vergessen hatte. Kontorsionen, Kraftakte, Schwerelosigkeiten, eine Modenschau der instantanen Travestie unter metallisch schillernden Draculaschwingen…oder die Hermanos Acero! Den Handstand „Hand auf Hand“ sollte man nicht versuchen, sich vorzustellen. Hier hilft wirklich nur der Besuch einer Roncalli-Vorstellung. Da waren denn auch über 1.000 Zuschauer bereits auf den Beinen. Standing Ovation!
Und diese Clowns, die uns so gerne dieses Bad im Klischee nehmen ließen: mit dem lachenden und dem weinenden Auge!
Denn bei aller Professionalität hat dieser Zirkus nie vergessen, wo er herkommt: Aus einer Welt der kleinen Leute mit ihren Kindern. Man fühlt sich erinnert an ein anderes filmisches Meisterwerk, Fellinis „La Strada“ mit Giulietta Masina und Anthony Quinn.
Mit Circus Theater Roncalli auf dem Gelände des Werksviertel-Mitte hat sich das Universum für fast einen Monat (bis einschließlich 12.November) einen Platz für die Poesie ausgesucht. Der Traum ist immer noch da. Er kann immer noch geträumt werden!