Das Erstarren der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Verfall einer Utopie-Simulation, das war das Thema von Anton Pawlowitsch Tschechow. In seiner distanzierten Weise, dabei aber sehr effektiv, machte Tschechow sichtbar, wofür wir heute den Ausdruck `transparent´ gebrauchen. Hinter seinen lakonischen, sich einer herkömmlichen, dramaturgischen Ordnung verweigernden Dialogen zeichnet die Fadenscheinigkeit eines gesellschaftlichen Dilemmas. Ehemals bürgerlicher Elan weht da schon wie ein vergilbter Vorhang vor einer (katastrophalen) Zukunft.
Im WERK7 theater konnte man am Donnerstag, den 18. Mai, eine Inszenierung von Tschechows Novelle „Krankenzimmer Nr. 6“ sehen. In „Ver:rückt“ spielen fünf Frauen und ein Mann – die Insassen der Psychiatrie und ihre Ärztin – ein Vexierspiel zwischen Irrsinn und Normalität.
Am Ende haben die beiden Welten eine Verwandlung ineinander vollzogen. Regisseurin Heike Anna Kochs Version endet im Gegensatz zur Vorlage, die beim Lesen selbst Lenin erschreckte, mit einer Heiterkeit des irren Lebens, mit einem Moment der Freiheit.
Dr. Andrei Jefimytsch Ragin, das Alter Ego Tschechows, wird in dem Stück mit den untergetitelten Schlagwörtern „Idiot, Arzt, Tür, Freiheit, Champagner“ von Stephanie Schulte gespielt. Als Dr. Anna ist sie mit weißem Kittel, Schreibbrett und Stift als Therapeutin kenntlich, wenngleich ziemlich sexy und charmant wirkend. Die Patienten in der Choreografie von Bettina Fritsche-Friedrich präsentieren sich, so wie sich Irre gemeinhin zu geben haben, in der Verweigerung der Ordnung des Körpers, des Körperanstands, in nicht gemäßen Haltungen, verkrümmt, gebückt, kriechend. Tatsächlich erinnert der redundante und diagnosetypische Körperklamauk an die ersten Begegnungen eines jungen Bürgertums auf das Phänomen des Wahnsinns. Die anarchische Skurrilität der Irren und ihre scheinbare Indolenz gegenüber den grausamen Haftbedingungen in den frühen französischen Hospitälern nach der französischen Revolution war Volksbelustigung. Die Herren und Damen der neuen Ordnung gingen ins Hôpital Bicêtre, um sich beim klinischen Exklusionsspektakel zu amüsieren, was den Marquis de Sade, der ebenfalls dort einsaß, inspirierte das Theater der Irren zu entwerfen.
Im WERK7 theater ist mit wenigen Griffen eine moderne, liberale Anstaltssituation hergestellt. Unter der sachlich unnahbaren Betongalerie stehen Koffer, vom kalten Balkon hängen Leintücher herab. Eine maximal sonore Stimme aus dem Off hatte die „Gastpatienten“ in den knappen Schalensitzen bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Verbindungen zur Außenwelt (Handy) von nun an nicht mehr zulässig seien.
Von der harten Arbeit gebeugt, bereitet Darjuschka (Monika Gruber), die Köchin der Literaturvorlage, Kaffee. Die Insassen verharren im Freeze ebenfalls in gebeugter Haltung, was wie ein (ironischer?) Kommentar wirkt. Als Tschechows Wächter Nikita erkennen wir nach einer Weile Saadet Atac, voll der Sado-Erotik mit streng zusammengefasstem Haar, Stiefeln und Reitpeitsche und voller Bluse. Sie ist gleichzeitig Poststelle und ungeheuer stolz darauf, Postkarten aus aller Welt zu verteilen, die Natascha (Renée Schöner) sich in seitwärts embryonaler Haltung am Boden fortbewegend, liest. Mascha (Christine Malz) hopst, schnalzt mit den Lippen und malt auf den Leinwänden. Der debile Adlige Gromow (Josa Ovari) mit Liebe zur Philosophie und zum Schach, grunzt.
Psychiaterin Dr. Anna nimmt unbewusst-bewusst zunehmend eine durchlässige Haltung ein. Sie grenzt sich immer weniger ab, was sie aber Therapie-Konzept verteidigt. Das führt dazu, dass die Insassen sich aus ihren Irrenrollen zu lösen, ihre Verrücktheiten mit philosophischen oder soziologischen Argumenten zu hinterlegen beginnen.
Hier fließen Zitate aus der Novelle ein und vermischen sich mit Positionen aus Tschechows „Kirschgarten“ und „Drei Schwestern“. Unter Führung von Gromow, der in maßlos überpointierter Phonetik einen „schlechten“ Schauspieler zu spielen scheint, infiltrieren die Irren die defensiv verharrende Ärztin mit einer Mixtur aus Aphoristischem und philosophischen Bruchstücken. Die Mixtur aus Schmerz, Leid, Kirschgärten, obsoleter Tradition, sinnloser Herkunft und gut gelagertem Champagner wird orchestriert von einem mehrfach am Abend intonierten Tierstimmenkonzert, in das am Ende die Ärztin mit einem sehr schönen Amsel-Zwitscherer einfällt.
Das labile Spannungsverhältnis von Wahn und Normalität ist vornherein klug angelegt, ganz im Sinne Tschechows indirekt und doch konsequent entwickelt und sehr spielerisch.
„Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, dass man seinen Nachbarn einsperrt“, das schrieb schon F.M. Dostojewskij vor Tschechow.