Eine kryptische Mitteilung erreichte letzte Woche eine (wohl) kleine Gruppe von handverlesenen Interessierten. Auf einem handschriftlich überschriebenen und korrigierten Flyer von WKM (Werksviertel Mitte Kunst) stand etwas von einem Non-Opening an einem noch geheimen Ort. Ein unbekannter Ort sollte nicht-eröffnet werden. Mit Programm, allerdings TBA (to be anounced). Wenn man darauf reagierte, bekam man im zweiten Zug einen Code mitgeteilt und die Aufforderung sich um 19.30 Uhr an einem Donnerstag im April vor dem Riesenrad Umadum einzufinden.
Zum diskreten Zeitpunkt nannte man den angetretenen Kunst-Administratoren mit den Namens-Listen seinen Code, der für alle derselbe war, und setzte sich in Bewegung, vorbei an der TonHalle auf das kürzlich fertig gestellte WERK1.4 zu. Im frischgegossen Beton-Umadum standen dort Instrumente, Notenständer – eine Big Band würde also spielen. Nicht irgendeine Big Band, sondern das Munich Composers Collective. Das 18köpfige Ensemble bescherte den Nichteingeladenen – eigentlich sollte man es ja vielleicht nicht an die große Glocke hängen und schon gar nicht vorab – ein rauschhaftes Konzert, hochenergetisch und doch am Ende selig betäubend. Und man sollte auch diesen Artikel nicht weiterlesen, denn der Schreiber war nicht imstande, sich einigermaßen sachlich anzunähern, noch daheim war er umgeben von babylonischen Harmonietürmen in einer sich fluktuierend krümmenden Musik-Raum-Zeit, in der Archetypen und feroce Gelichter von gefährlicher Schönheit ihre Auftritte hatten.
So fand in der utopischen Radikalität dieses künstlerischen Ereignisses die Nichteröffnung im utopisch deklarierten Raum eine smarte Bestätigung. Ironische Brechungen machten auch in der Folge Spaß: Zwar existiert der Veranstaltungsort als solcher noch nicht, aber die Flagge von Werksviertel Mitte Kunst konnte schon mal eingerammt werden. Wir erfuhren von Martina Taubenberger, dass das MCC in Zukunft das „Ensemble in Residence“ im Werksviertel sein wird! Was für eine Erwerbung für das Gelände! Aber: Psst! Dennoch unvermeidlich – selbst bei dezentem Marketing – dass mit diesem fulminanten Start der vorläufig im Münchner Konzertbetrieb noch immaterielle Ort, der möglicherweise „Flüsterkneipe“ heißen könnte, wie man hört, seine territoriale und genehmigungsrechtliche Verankerung schnell gefunden haben dürfte. Unweit einer ominösen Freifläche festgetretenen Lehms ein weiterer Eckstein für das Konzerthaus! Dabei ist Taubenberger für ein kurzen Moment versucht, eine der herumstehenden LED-Laternen in die Hand zu nehmen. um in mittelalterlicher Manier anzustimmen: „Hört ihr Herrn und lasst euch sagen…“, aber wie ließe sich das heute korrekt umformen? So oder so ein köstliches Spiel mit Deutungsebenen. Was wie ein leicht kindisches Spionage-Brimborium begann, erweist sich als raffiniert chiffriertes Marketing um den utopischen Kern eines fantastischen Konzerts.
Das MCC wurde 2014 an der Musikhochschule von Professor Gregor Hübner gegründet, ist schon seit Jahren mit seinen komponierenden Alumni im internationalen Betrieb angekommen und fest eingebunden in das vom „Sirius Quartet“ ins Leben gerufene Progressive Music Chamber Festival. Ebenso 2014 gegründet, kommt auch das „Verworner Krause Kammerorchester“ (VKKO) aus der Kaderschmiede der Münchner Musikhochschule, was Indiz für eine enorme Kreativität und Produktivität ist, die in München, was die Spielorte angeht, noch nicht in angemessenem Umfang ihre Stadt gefunden hat. Beide Orchester zeichnen sich durch eine unerbittlich, auftürmend repetitive Rhythmik aus. Während VKKO Dub-Techno-Elemente symphonisch transformiert, um sie bis zur Ekstase auf einem neo-modernen Dance Floor auszutanzen, lässt das MCC seine vertikal zeitraffenden Rhythmus-Bauschritte immer wieder sanft zusammenbrechen, zu weichen und diabolisch attraktiven Reminiszenzen von romantischer Todesschönheit, wie das vor allem bei Gero Hänsels „Illusion“ zu erleben war.
Tuba, Posaune, Bassklarinette, Kontrabass und E-Bass klingen traumhaft abgründig. Das Streichquartett um Gregor Hübner versieht diesen veritablen Abyss mit dem sinistren Glanz eines unumkehrbaren Rituals. Im Tiefen-Introitus baut sich ein sonorer Souverän auf, erhebt sich gleichzeitig in unseren Echokammern und beginnt als Inquisitor im Archiv unseres Unbewussten zu agieren, doch dann sorgt ein wie künstlich injizierter Pick Up für ein Ende der Suada und das Traumgebilde zerstiebt. Die Fäden, textile Teile eines Talars der Machtsuggestion tanzen mit leicht atonaler Ungezwungenheit durch den Raum, aber der dunkle Widerpart fängt sie wieder ein, verknüpft sie erneut, weniger souverän, aber zorniger. In dieser Reconquista taucht Gregor Hübner mit seinem Solo in den schwarzen Schleier und öffnet den Blick: Zwischen den Drohkulissen ahnen wir schemenhaft den Tod und das Mädchen in einer friedlichen, fast naiven Tristesse. Der Tod in einem menschlichen Moment ohne düstere Grandezza.
Den zweiten Teil nach der Pause beschließt Monika Roscher, die an der Musikhochschule Jazzgitarre und Komposition studiert hat. 2012 gründete sie die Monika Roscher Big Band. Ihr Stück „A Starlight Night Crash“, in dem sie wie bei ihrer Big Band auch singt, ist wie viele ihrer Kompositionen apokalyptisch gestimmt. Auf der Suche nach Enthüllung im ursprünglichen Wortsinn. Mit mächtigen Tutti-Flächen marschiert das Orchester voran, um immer wieder, wie plötzlich ausgeblendet aus dem Desaster einer zerbrechenden Welt, ihre Stimme mädchenhaft konstatieren zu hören, was alles um sie geschieht: Das All kreißt, das alte Zentralfeuer bricht auf in zahllose Sterne, das Firmament gerinnt zu einem Wasserspiegel. Die Druckwellen der rockenden Ostinati schütteln den ganzen Raum, aber wieder, eins ums andere Mal, überlebt ihre Stimme, allein in der interstellaren wie gleichwohl zivilisatorischen Katastrophe. Aber es ist kein Inferno wie bei „Illusion“, kein Souverän agiert und herrscht und betört. Alle umgebenden Hüllen, die den Menschen je beheimateten, sind ohnehin verloren, das metaphysische Dach eingestürzt und auch die irdische Hülle zerschossen. Nur die einzelne Stimme – seltsam genug – sie bleibt. „Just a dream“. Vielleicht hat die Wiederherstellung der alten Unordnung ihr Gutes?
Mit dem Bachchoral „Es ist genug“ verabschiedet sich das MCC von dem begeisterten Nicht-Publikum. – Für diesen Abend, der zu aufregend, um wahr zu sein.
Was man am Schluss mit der größten Zurückhaltung jedoch hinter vorgehaltener Hand vielleicht doch erwähnen darf: Das MCC und die Monika Roscher Band präsentieren ihre neuen Alben noch heuer im Mai. Wer suchet, der findet.