Nadine Nurasyid ist seit 2021 Headcoach des Footballteams Munich Cowboys, das seit 16 Jahren vom Werksviertel-Mitte gesponsort wird. Nurasyid ist die erste Frau in Europa, die in der höchsten nationalen Spielklasse ein Männerteam trainiert. Wir sprachen für unser neues WERK MAGAZIN mit ihr darüber, ob sie die Energie ihres Teams erspüren kann, über die besondere Energie von Führungsspielern, Reibung im Team und die Energie von Zielen.
Frau Nurasyid, wie sind Sie zum American Football gekommen?
Sport hat mich in meinem Leben immer begleitet. Mit 27 dachte ich allerdings, ich fange keine Kollisionsportart mehr an. Doch als ich dann durch Zufall zum American Football gekommen bin, fand ich es unheimlich spannend, in diesen Sport und in diese Welt einzutauchen: Die Anforderungen an die Athletik, dieses Schachspiel auf dem Rasen, die Vielzahl an Techniken und Taktiken. Am Ende waren es die Komplexität und die Athletik, die den Ausschlag für mich gegeben haben. Der Entschluss hat mir zudem die Entscheidung erleichtert, Sportwissenschaft zu studieren.
Ist American Football wirklich so komplex?
Es ist der komplexeste Sport, den ich kenne.
Wie ist das Verhältnis von Athletik – also körperlicher Energie – und Taktik – also psychischer Energie – beim American Football?
Das hängt davon ab, auf welchen Niveau die Teams spielen. Hier in Deutschland kommen Teams noch viel über die Athletik. Je höher das Niveau ist, desto relevanter werden die „Schemes“, die Taktiken. Natürlich gibt es auch in der NFL noch 1:1-Situationen, die individuell gelöst werden müssen, und in denen sich der athletischere Spieler durchsetzt. Aber im Großen und Ganzen gewinnt dort der bessere Schachspieler.
Was macht Sie zu einem guten Coach?
Das ist eine schwere Frage. Ich glaube, hier kommen mehrere Dinge zusammen. Da wäre mein Coaches Eye. Das ich das Talent habe zu erkennen, wo das Problem bei einem Spieler liegt, Zum Beispiel bei einer Bewegung. Und zum anderen, dass ich anschließend in der Lage bin, mit meinem Coaching Point konkret an diesem Problem zu arbeiten. Man kann als Coach ja auch immer viel drumherum reden. Ich finde es jedoch wichtig, gezielt anzusprechen, wo ich das Problem sehe: Was muss gecoacht werden, um die Bewegung zu ändern. Hinzu kommt sicherlich auch die gute Beziehung, die ich zu den Spielern habe, die sich auf Grundlage von Vertrauen und guter Kommunikation entwickelt hat.
Merken Sie am Energielevel im Training, wie das nächste Spiel wird?
Ja und nein. Dass ist bei uns mitunter schwer zu sagen, da manchmal zwei, drei Tage zwischen dem letzten Training und dem Spiel liegen können. Mental ist das was anderes. Da muss man dann herausfinden, womit das zu tun hat. Liegt es am Gegner? Wo stehen wir in der Tabelle? Haben wir Angst vor der eigenen Courage? Wo ich es definitiv merke, ist beim Warmup am Game Day. Da schnappe ich die unterschiedlichen Energien der Spieler auf. Da kann es auch vorkommen, dass wir im Trainerteam reagieren und dem entgegenwirken müssen.
Muss man sich das vorstellen, wie in einem Sportfilm? Wo mit einer Ansprache noch einmal Energien freigesetzt werden, die vorher nicht da waren? Ist das in der Realität möglich?
Ja, auf jeden Fall. So einfach wie in Filmen ist es jedoch nicht. Die Spieler sind sehr individuell und reagieren daher unterschiedlich auf eine Ansprache. Da sind dann vor allem unsere Position Coaches gefragt, sich die einzelnen Spieler, mit denen sie auch im Training sehr eng arbeiten, nochmal zu schnappen. Ich selbst bin jetzt nicht der große Redner. Das wäre also nicht authentisch. Aber die Ansprache muss ja nicht immer vom Headcoach kommen. Die wichtige Frage in so einer Situation ist immer, wie reagieren die Führungsspieler, die Leader? Wenn wir es schaffen, die nochmal rumzukriegen, dann fließt die ganze Energie in die Richtung, in die wir es gerne hätten.
Was zeichnet einen Führungsspieler aus? Sind das Persönlichkeiten mit einer besonderen Ausstrahlung, mit einer besonderen Energie?
Es gibt sehr unterschiedliche Arten von Führungsspielern. Es muss nicht immer der sein, der athletisch dominiert. Wichtig ist, dass er in der Startaufstellung steht. Er muss auf dem Feld stehen, um führen zu können. Ein Führungsspieler muss zudem in den Spielzügen präsent sein. Er muss also auch performen, damit er den Respekt der anderen Spieler hat. In der Regel ist das jemand, der länger im Verein ist, der unser System und unsere Werte kennt, und der viele Antworten auf mögliche offensive Spielzüge hat. Es ist jemand, der auf dem Feld viel kommuniziert und die Leute richtig positioniert. Unsere größte Herausforderung ist ja, dass alle elf Spieler auf dem Geld richtig positioniert sind. Wenn nur einer falsch läuft, funktioniert womöglich unser Spielzug nicht mehr und wir kriegen einen Touchdown. Ein Führungsspieler muss also erfahren und kommunikativ sein, er muss einen guten Draht zu seinen Teamkollegen haben. Er muss in der Lage sein, schnell Entscheidungen treffen und auf Situationen richtig reagieren. Er kann den sogenannten Schalter – Wo wir beim Thema Energie sind! – in dem Moment umlegen, in dem das Spiel läuft.
American Football ist ein Mannschaftssport. Sie haben bereits angesprochen, dass ohne ein harmonierendes Positionsspiel nichts geht. Wie wichtig ist die zwischenmenschliche Energie im Team? Gibt es Spieler, die athletisch und taktisch topp sind, aber diesen Vorteil durch ihr zwischenmenschliches Verhalten verspielen und damit die ganze Mannschaft sogar schlechter anstatt besser machen?
Absolut, das kommt vor. Umso wichtiger ist es, dass wir im Team, auch im Coaching-Team, die Personen versammeln, die menschlich miteinander können. So verarbeitet man auch Reibereien positiv. Die gibt es immer mal, und sie sind auch notwendig. Wichtig ist: Man muss die gleichen Werte haben. Wenn ich einen Profispieler unter Vertrag nehme, stelle ich mir neben den sportlichen Qualifikationen immer die Frage, ob er die richtige Person für uns als Munich Cowboys ist. Dadurch, dass unser Sport so komplex ist, und wir so unterschiedliche Positionsgruppen haben, unterscheiden sich die Spieler nicht nur physisch, sondern auch in ihrem Charakter.
Unterschiedliche Positionen erfordern unterschiedliche Charaktere?
Ein O-Liner, der steht nie im Rampenlicht, der muss immer den Quarterback beschützen. Dass ist ein völlig anderer Charakter als ein Wide Receiver, der die Bälle fangen und den Touch Down machen will. Und ich glaube, dass ist der größte Trick, die alle unter einen Hut zu bekommen.
Wie gelingt das? Wie steuert man die zwischenmenschliche Energie in einem Team?
Wir kommunizieren stets offen. Wir reden über unsere Ziele, damit jeder weiß, worauf wir hinarbeiten. Wenn jeder unterschiedliche Ziele hat, gehen wir in unterschiedliche Richtungen.
Das kostet jedoch Energie.
Genau. Also fragen wir: Wo wollen wir hin? Wie kommen wir dort in? Seit 2022 arbeiten wir auch mit einer Sportpsychologin zusammen. Das finde ich wichtig. Am Ende des Tages sind wir Trainer und keine Psychologen. Als Nichtexperte kann man in diesem Bereich Dinge auch schlimmer machen, wenn man meint, dass man sich auskennt, ohne jedoch die Kompetenz zu haben.
Was sind typische Energieräuber? Es gibt ja nicht nur positive, sondern wie bereits angesprochen negative Energie?
Im Football beginnt unser Training mit sogenannten Walkthroughs, bei denen wir unsere Spielzüge durchgehen. Wenn wir da merken, dass nicht alle dabei sind, dass wir viele Fehler machen, schlägt das gern mal auf die Stimmung, weil offensichtlich ist, dass da jemand sein Playbook nicht gelernt hat. Das ist ein typischer Energieräuber. Für den Spieler, der nicht gelernt hat und nicht weiß, was sein Job ist. Und für die zehn anderen, die sich an dem einen Spieler reiben.
Wissen Spieler um ihr Energielevel? Haben Sie schon einmal erlebt, dass ein Spieler vor einem Match zu Ihnen gekommen ist, und gesagt hat, ich kann nicht spielen?
Nein. Es kann vorkommen, dass jemand aufgrund einer privaten Situation vielleicht gar nicht am Start ist. Aber sobald jemand bei der Mannschaft ist, will er spielen. Und das klappt in der Regel auch sehr gut, selbst wenn man im Training zuvor gemerkt hat, dass es da eine Situation gab oder gibt, die den Spieler belastet. Darüber reden wir auch offen. Letztendlich läuft bei jedem von uns alles in einen Stress Bucket – der Stress in der Arbeit, der Stress im Sport, der Stress im Familienleben, Krankheit. Irgendwann läuft dieser Eimer einfach über.
Welche Rolle spielt Ernährung für eure Energie?
Da könnten wir sicherlich noch professioneller werden. Wenn wir es in der Hand haben, auf Busfahrten zum Beispiel, versuchen wir das zu steuern. Wir halten zum Beispiel nicht bei Fastfood-Läden. Ich kann nicht oben was Schlechtes reinkippen und dann erwarten, dass obwohl ich schlechten Sprit getankt habe, voll leistungsfähig bin.
Wie hoch schätzen Sie das Potenzial ein, die Leistung mit der richtigen Ernährung zu verbessern?
Zwischen 10 und 20 Prozent.
Kostet es eine Frau mehr Energie, dorthin zu kommen, wo Sie jetzt sind?
Es ist schwer zu sagen, da ich den Vergleich als Mann nicht erlebt habe. Wenn ich meiner Erfahrung trauen kann, würde ich jedoch sagen: Ja.
Muss eine Frau mehr Energie aufbringen, um als Coach von Männern akzeptiert zu werden?
Das Gefühl, mich beweisen zu müssen, hat mich immer begleitet. Allerdings denke ich mir: Womöglich hätte mich dieses Gefühl auch als Mann begleitet, da es Teil meiner Persönlichkeit ist. Ich will immer das Beste mit meinem Team erreichen. Gerade am Anfang habe ich daher sehr viel Energie investiert. Ich wollte es besonders gut machen und zeigen, dass ich nicht umsonst dort bin, wo ich jetzt bin. Das hat sich jedoch geändert, da ich mich bereits in vielen Situationen bewiesen habe und aus einer anderen, stärkeren Position heraus kommunizieren und agieren kann.
Woher kommt die Energie, die Motivation der Spieler?
Die Jungs motiviert das Level, auf dem wir spielen. Wir sind zum Beispiel eine sehr defensivstarke Mannschaft. Wir haben in jedem Fall eine Championship Defense. Das Wissen um diese Stärke puscht das Team enorm. Wenn wir jetzt noch in der Offensive nachlegen und dort ein Feuerwerk zünden, können wir wirklich ganz oben angreifen.
Geben Ziele Energie?
Ja, wir wollen uns ja entwickeln und verbessern. Dafür müssen wir wissen, welche Ziele wir ansteuern. Wir wollen weiter an unserer Teamkultur an unserer Teamidentität arbeiten. Unser Fokus liegt auf der Entwicklung deutscher Spieler. Und natürlich wollen wir eines Tages den German Bowl gewinnen. In diesem Jahr wird das sicherlich noch schwer, aber wir wollen es besser machen als letztes Jahr. Da kamen wie ins Viertelfinale.
Wie tanken Sie auf, wenn Sie keine Energie mehr haben?
Zu wenig und zu selten. Während der Saison ist wenig Zeit. Dass „Leading by Example“ könnte in diesem Bereich besser sein. Außerhalb der Saison gelingt mir das schon.
Wie?
Endlich wieder Zeit für Freunde haben. Mal nicht über Football reden … Draußen an der frischen Luft sein.
Thema Druck. Er kann beflügeln, also Energie geben, aber auch blockieren, also das Fließen der Energie behindern. Wie gehen Sie mit Druck um?
Beim Gedanken an Druck, sehe ich einen Luftballon vor mir, der mit Helium gefüllt wird. Du willst, dass er steigt. Aber du willst nicht, dass er platzt. Ich persönlich verspüre immer Druck. Er treibt mich an. Ohne Druck, fehlt die Notwendigkeit. Im Spiel versuche ich den Spielern Druck zu nehmen, da stehen die Spieler genug unter Spannung. Im Training ist das wiederum etwas anderes. Da versuche ich Druck zu applizieren, damit die Spieler den Druck im Spiel gewohnt sind und damit umgehen können.
Mehr Informationen zu den Spielen der Cowboys gibt es unter www.munich-cowboys.de