Vom 7. bis 12. September findet in München die IAA MOBILITY statt. Als Kooperationspartner der Messe rückt auch das Werksviertel-Mitte in dieser Zeit Mobilitätsthemen besonders in den Fokus. Wir sprachen mit Jürgen Mindel vom Verband der Automobilindustrie e.V. (VDA) sowie mit Tobias Gröber von der Messe München GmbH (MMG) über die Herausforderungen, vor denen unsere Mobilität steht, und über den Wert, den Mobilität für Mensch und Gesellschaft hat.
Die IAA verändert sich, von einer reinen Automesse zu einer Mobilitätsplattform. Unter anderem wird auch das World Cycling Forum Teil der IAA sein. Warum gehen Sie diesen Schritt?
JÜRGEN MINDEL (VDA): Die neue IAA MOBILITY präsentiert die Mobilität der Zukunft. Alle Akteure der Mobilität, vom Zulieferer bis zum Verbraucher, vom Start-Up bis zum Global Player, werden auf der IAA MOBILITY ihre Angebote auf dem Weg zur klimaneutralen Mobilität präsentieren. So bringt auch das World Cycling Forum Fahrradhersteller, Einzelhändler sowie Marken und Interessengruppen aus der ganzen Welt zusammen, um die neuesten Branchentrends zu diskutieren.
Die IAA MOBILITY wird verschiedene Themenfelder der Mobilität abbilden, zum Beispiel innovative Services wie Ridepooling, vernetzte Transport- und Liefersysteme sowie neue Antriebsarten. Als Branche arbeiten wir intensiv an diesen neuen Angeboten und Alternativen. Wir machen die neue Mobilität, von der alle reden.
Und wir haben bereits sehr viel erreicht. Wir sind Europameister bei der E-Mobilität. Und auch bei den Patenten im Bereich E-Mobilität ist die deutsche Automobilindustrie schon weit vorne. Auch in den anderen Feldern sind wir spitze: bei Forschung und Entwicklung, in den Bereichen Antrieb, Batterie, Hybrid, bei der Digitalisierung und dem autonomen Fahren. Wir haben in Deutschland das Auto erfunden, und jetzt erfinden wir es neu.
Welchen Wert hat Mobilität für unsere Gesellschaft?
TOBIAS GRÖBER (MMG): Unsere Mobilitätskultur ist im Wandel. Eine der großen Zukunftsaufgaben ist es beispielsweise, Antworten auf die weltweite Urbanisierung zu finden. Insbesondere jüngere Leute sind in ihrer Verkehrsmittelwahl eher pragmatisch. Verkehrsmittel werden zunehmend flexibel und in Kombination miteinander genutzt. Die Wahl des Verkehrsmittels und der Route ist viel stärker als früher situations- und reisezweckabhängig. Letztlich gibt es nicht die eine Mobilitätslösung, denn der Bedarf in einer Großstadt ist auch ein anderer als auf dem Land.
Neben der digitalen Weiterentwicklung von Mobilitätsdienstleistungen und der Zweirad-Mobilität ist die Automobilindustrie einer der Haupttreiber: Mit ihren Carsharing-Angeboten steht sie heute für rund drei Viertel dieses Marktes – mit wachsender Tendenz. Die Automobilindustrie entwickelt sich damit weiter vom reinen Automobilhersteller hin zum Mobilitätsdienstleister.
Welchen Wert hat Mobilität für den Menschen persönlich?
JÜRGEN MINDEL (VDA): Auch wenn wir in den vergangenen Jahren das Aufkommen einer Vielzahl von innovativen Mobilitätsdiensten beobachten konnten, wünschen sich noch immer viele Menschen ein eigenes Auto. Denn mehr als 80 Prozent der Deutschen brauchen das Auto für die Gestaltung ihres Alltags. Selbst in Großstädten ist das so: Nur neun Prozent der Großstadtbewohner geben an, ohne Probleme auf das Auto verzichten zu können. Das bestätigt eine vom VDA beauftragte Studie von Allensbach.
Das Auto ist damit bei Weitem das wichtigste Verkehrsmittel und wird das Fundament des individuellen Verkehrs bleiben. Daran wird sich nach Einschätzung der Bundesregierung auch bis mindestens 2030 nichts ändern: Der Pkw-Bestand in Deutschland wächst nach wie vor von Jahr zu Jahr. Zeitgleich wird das Auto aber immer besser: nachhaltig, digital, klimafreundlich.
Mobilität bewegt nicht nur Waren oder Menschen von A nach B. Mobilität trägt auch entscheidend dazu bei, dass Menschen sich weiterentwickeln können. In Filmen oder in der Literatur ist das Reisen nicht umsonst ein zentrales Motiv. Welche Reise hat Sie verändert, beziehungsweise nachhaltig geprägt?
TOBIAS GRÖBER (MMG): Da fällt mir sofort mein Auslandssemester in Barcelona ein. Gemeinsam mit einem Studienfreund habe ich mir damals einen über 20 Jahren alten Audi 80L für 150 D-Mark gekauft. Das Auto hatte noch sechs Monate TÜV und war achtfach bereift. Weil das Auto so günstig war, haben wir das „U“ aus dem „Audi“ durch das eigentlich hinten anstehende „L“ ersetzt und sind dann mit unserem „Aldi 80“ Baujahr 1976 in mehreren Etappen von Deutschland nach Spanien gefahren und sechs Monate später wieder zurück. Die einzige Panne war ein Reifenplatzer bei Perpignon nachts um zwei Uhr bei der Rückfahrt von Barcelona.
Prägend war neben dem Abenteuer, ob wir überhaupt ankommen, dass wir uns eigenständig durchschlagen und zurechtkommen mussten. Damals ohne Online-Übersetzer, Smartphone, Navigationssystem oder Airbnb. Wohnungssuche, Studium, Kennen- und Liebenlernen der Kultur klappten aber auch so. Und das alles, ohne immer erreichbar zu sein. Mobiltelefone gab es zwar Mitte der 90er Jahre schon, aber die konnten wir uns nicht leisten.
Welche Merkmale machen in Ihren Augen eine gut funktionierende Mobilität aus?
TOBIAS GRÖBER (MMG): Es gibt eine Vielzahl an Faktoren, die hier wichtig sind. Schnelligkeit, Komfort und Sicherheit sind ganz zentral. Mobilität muss heute aber auch klimafreundlich und smart sein. In diesem Zusammenhang ist die Idee der multimodalen Mobilität interessant, die bereits angesprochen wurde.
Das Prinzip ist uns im Alltag bereits wohlvertraut: Wir wählen und verknüpfen oftmals verschiedene Verkehrsmittel miteinander. Ob Bus, Bahn, Fahrrad, Carsharing oder das eigene Auto – entscheidend ist nicht mehr, womit man unterwegs ist, sondern dass man auf dem effizientesten Weg ans Ziel kommt. Und dieser neue Weg öffnet sich immer weiter, seitdem Apps dabei unterstützen können, anbieterunabhängig die schnellste oder bequemste Route zu finden, Transportmittel zu reservieren und das vereinfachte Bezahlen zu ermöglichen. Zudem kann die individuelle Reisekette aufgrund von Echtzeitinformationen flexibel angepasst werden.
Die deutschen Automobilhersteller bieten eine Vielzahl solcher multimodalen Angebote. Zusammen mit Start-ups und anderen Technologieunternehmen entwickeln die Unternehmen ständig neue Ideen für innovative Mobilitätsdienste.
Welches sind aktuell die größten Herausforderungen, die wir bei der Ausgestaltung unserer Mobilität meistern müssen?
JÜRGEN MINDEL (VDA): Das ist mit Sicherheit die Wende hin zu einer klimaneutralen Mobilität. Für uns haben die EU Mobilitätsstrategie und das Pariser Klimaabkommen eine zentrale Bedeutung. Klimaschutz hat allerhöchste Priorität und die Automobilindustrie steht hinter den ambitionierten Pariser Klimazielen. Die EU-Mobilitätsstrategie setzt bei fast allen Verkehrsträgern sehr stark auf E-Mobilität, während ein europaweites Ladenetz derzeit noch fehlt. 75 Prozent der Ladeinfrastruktur in der EU finden wir aktuell in nur drei Staaten – Niederlande, Deutschland, Frankreich – und auch nur für Pkw. Das Lkw-Netz fehlt fast völlig. Der Ausbau der Ladeinfrastruktur ist wichtiger Bestandteil der Elektromobilität.
Die Attraktivität von Elektrofahrzeugen hängt aus Kundensicht von der Einfachheit der Nutzung ab. Hierbei geht es nicht nur um die Anzahl und Verteilung der Ladesäulen, sondern auch um die Benutzerfreundlichkeit. Entscheidend dafür sind ein ungehinderter Zugang, ein einheitliches, einfaches Bezahlsystem und die Ladedauer. Die Ladedauer und die Position der Ladesäule hängen von den unterschiedlichen Anwendungsfällen ab: Das Laden zu Hause, beim Arbeitgeber, am Zielort, je mit kurzer oder langer Verweilzeit, sowie das Schnellladen unterwegs auf längeren Fahrstrecken.
Bereits in dieser frühen Markthochlaufphase erfordert es im öffentlichen Raum eine Ladeinfrastruktur über den derzeitigen Bedarf hinaus. Hier stehen Kundenwahrnehmung und Aufbau von Kundenvertrauen in die E-Mobilität im Vordergrund.
Diskussionen über Mobilität werden häufig zu einem hitzigen Kulturkampf, in denen die Diskutanten sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen. Warum ist das so? Am Ende wollen doch alle – egal ob Fußgänger, Fahrrad- oder Autofahrer – dasselbe: Sich möglichst sicher und effizient bewegen können?
JÜRGEN MINDEL (VDA): Wie die Menschheit Städte lebenswerter gestalten und Flächen bestmöglich nutzen kann, ist einer der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Kein Zweifel, in den nächsten Jahrzehnten wird es in vielen Metropolen der Welt eng werden. Schon heute wohnt über die Hälfte der Menschheit in Städten, bis 2050 sollen es nach Schätzungen der Vereinten Nationen sieben von zehn Milliarden Menschen sein.
Zugleich ist eine neue Zeitenwende eingetreten: Politiker und Stadtplaner suchen nach neuen Mobilitätskonzepten, wollen grüner und nachhaltiger werden. Die Studie „Mobility Futures“ aus dem vergangenen Jahr hat die Mobilitätswende in verschiedenen Städten weltweit untersucht und ein Experte des Marktforschungsunternehmens Kantar hat in diesem Zusammenhang den Satz geprägt: „Alle Städte sind unterschiedlich. Deshalb ist es unerlässlich, den Menschen in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen, um das zukünftige Mobilitätsverhalten besser zu verstehen und Chancen zu erkennen.“
Letztendlich geht es immer um Koexistenz, Solidarität und Teilhabe. Das zeigen die Mobilitätswende und die genannten Beispiele mehr denn je.
Müssen wir unsere Vorstellung von individueller Mobilität, wie wir sie bisher kannten, verändern? Wenn ja, wie können wir sie in Zukunft gestalten?
TOBIAS GRÖBER (MMG): Wichtig ist, dass wir heute und in Zukunft einen bunten Mix der Verkehrsmittel haben. Wir müssen hier sehr breit und vernetzt denken. Die Wende hin zu einer klimaneutraleren Mobilität wird nur dann erfolgreich sein, wenn sich die besten Lösungen im Wettbewerb durchsetzen und wir einen echten Dialog führen.
Diese Lösungen werden wir nicht finden, wenn wir einseitig mit „Entweder-Oder-Botschaften“ argumentieren. Wir brauchen einen echten Dialog mit möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen um die Mobilitätslösungen von morgen. Dazu möchten wir im Rahmen der IAA MOBILITY 2021 jeden einladen. Denn nur gemeinsam können wir an den Mobilitätslösungen der Zukunft arbeiten, die eben aus einem verbindenden „Sowohl als auch“ bestehen.
Welche Entwicklungen werden insbesondere die urbane Mobilität der Zukunft maßgeblich beeinflussen?
JÜRGEN MINDEL (VDA): Ein Thema ist die „vernetzte Stadt“. Auf der grünen Welle durch den Feierabendverkehr – wer möchte das nicht? Durch eine intelligente und vernetzte Infrastruktur könnte das in Zukunft deutlich besser klappen. Mobilität wird digitaler, dadurch auch effizienter und schlussendlich nachhaltiger. Wer Menschen davon überzeugen will, genau das Verkehrsmittel zu nutzen, das sie schnell und effizient ans Ziel bringt, muss das Umsteigen bequem machen. Und zwar an den Stadtgrenzen genauso wie in der Stadt selbst.
Eine weitere wichtige Entwicklung geht in Richtung sogenannter Mobilitäts-Hubs. Diese sind ihrer Vision nach wichtiges Bindeglied für sämtliche Verkehrsmittel des städtischen Raums: zu Carsharing-Fahrzeugen, Leihfahrrädern, zu fahrerlosen Shuttles, zu Flugtaxis oder Seilbahnen. Davon werden wir in Zukunft mehr sehen.
Ein weiteres Thema, das viele beschäftigt, ist der städtische Lieferverkehr. Ob Essen, Bücher, Kleidung oder Möbel: Ein paar Klicks im Internet und schon wenige Tage später ist die Bestellung da. Der Onlinehandel boomt. Was für uns auf dem Sofa eine komfortable Alternative zum Shoppingtrip in der Innenstadt ist, hat große Auswirkungen auf die gesamte Logistikbranche. Für viele Experten sind Elektro-Lieferwagen in Zukunft ein wichtiger Baustein. Leise und sauber sind die in den Straßen unterwegs und in Kombination mit Last-Mile-Lösungen eine smarte Möglichkeit, das Verkehrsaufkommen langfristig zu verringern.
Autonom fahrende Busse, eine gute Radverkehrsinfrastruktur oder die Anbindung von Stadt und Land – es gibt noch zahlreiche weitere Entwicklungen, die die urbane Mobilität in den nächsten Jahren prägen werden.
Welche Entwicklungen (technisch/konzeptionell) werden unsere Mobilität in Zukunft allgemein beeinflussen? (Warentransport/ Luftfahrt)
JÜRGEN MINDEL (VDA): Grundsätzlich hat sich unsere Perspektive auf die Nutzung von Verkehrsmitteln bereits in den letzten Jahren stark verändert. An der Schnittstelle von Arbeit, Wohnen und Freizeit gibt es viele spannende Entwicklungen und Menschen wollen nicht immer nur einfach von A nach B kommen. Globale Mobilitätstrends sind: Mobility as a Service, Car- und Ridesharing, die sogenannte „seamless mobility“, also eine Mobilität, in der ich nahtlos zwischen den einzelnen Verkehrsmitteln wechseln kann, Konnektivität und künstliche Intelligenz, autonomes Fahren, Mikromobilität, natürlich die Elektromobilität und viele weitere.
Die Veränderung der innerstädtischen Logistikprozesse wurde bereits angesprochen. Hierbei geht es darum, ganze Lieferprozesse nachhaltig zu optimieren – elektrisch, leise und emissionsfrei. Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive geht es um die Lösung ökonomischer und ökologischer Fragen. Um die Energiewende zu meistern, müssen wir zunächst in der Lage sein, regenerative Energie effizient zu speichern und zu transformieren. Wasserstoff steht als Energieträger nicht nur dem Verkehr zur Verfügung, sondern kann in seiner Anwendung mit anderen Industriebereichen und der Wärmeerzeugung in Haushalten verknüpft werden.
Welche Mobilitäts-Innovation sollte in Ihren Augen möglichst schon morgen Realität sein?
TOBIAS GRÖBER (MMG): Viele Menschen interessieren sich momentan für Flugtaxis und Passagierdrohnen. Kein Stau, keine Ampeln, keine Umwege, dafür eine atemberaubende Aussicht: Fluggleiter mit elektrischer Power oder Wasserstoff für die Kurzstrecke ergänzen unsere individuelle Mobilität in Zukunft um eine dritte Dimension. Weltweit ist ein interessanter Wettlauf um das erste serienfähige Flugobjekt für die Kurzstrecke im Gange und der vorherrschende Pioniergeist ist beeindruckend.
Mit welchem Gefühl und mit welchen Ideen sollen Aussteller und Besucher der IAA Mobility 2021 die Messe idealerweise verlassen?
TOBIAS GRÖBER (MMG): Die IAA MOBILITY präsentiert die Mobilität der Zukunft. Erstmals können viele der Innovationen nicht nur bestaunt, sondern auch ausprobiert werden – im Rahmen eines neuen Konzeptes, das die IAA MOBILITY nun auch mitten in die Stadt zu den Menschen bringt. Uns ist es wichtig, Mobilität aus ganzheitlicher Perspektive zu zeigen. Mobilität wird häufig als ein „Entweder-oder“ dargestellt – Fahrspaß oder Nachhaltigkeit, Stadt oder Land, individuell oder öffentlich. Aber Mobilität ist stets ein vielfältiges „UND“.
Die IAA MOBILITY zeigt, dass Mobilität und Klimaschutz keine Gegensätze sind. Neueste Technologien und faszinierende Fahrzeuge, wie sie die deutsche Automobilindustrie entwickelt, sind die Basis für eine neue Nachhaltigkeit. Die IAA MOBILITY wird das in aller Vielfalt zeigen. Automatisiert, elektrisch, vernetzt und klimaneutral.