Freiheiten werden zurückgegeben. Ist das Nostalgie oder ein Abspielfehler in der Matrix? Am 18. Mai eröffnete in der whiteBOX von „Werksviertel Mitte Kunst“ die Ausstellung „An die Zukunft der Nostalgie“. Zunächst virtuell vor dem Laptop mit einem Gläschen Sekt neben der Tastatur, dann konnte man im Zuge der Freiheitsrückgabe im Lauf der vergangenen Tage nach Terminanmeldung schon leibhaftig vorbeischauen, nunmehr ist nicht mal mehr Termin vonnöten, man geht einfach hin. Wahnsinn!
Der Bann scheint gebrochen, die Zeit ist wieder angesprungen, manche träumen schon von den Gerüchen im Inneren von Wirtshäusern. Man könnte die Ausstellung sogar noch einmal eröffnen, zumal sie zum derzeitigen Stand noch nicht ganz komplett ist, was aber der Tatsache keinen Abbruch tut, dass das Thema hochinteressant ist. Nehmen wir mal an, eine virtuelle Eröffnung sei so etwas wie ein Abspielfehler auf der realen Seite der Matrix Wirklichkeit. Man denke nur an das zweimalige Auftreten der Katze im Film „Die Matrix“. War es Schrödingers Katze?
© URKERN 2021 / Michael Wüst
„Die Ursachen liegen in der Zukunft“ Schon Beuys hatte es mit den Zeitanomalien.
Kuratiert wurde diese Ausstellung von dem Duo Çağla Ilk und Misal Adnan Yildiz. Die Architektin Çağla Ilk hatte bereits 2018 „In Transition“ gezeigt und 2017 „Fleisch und Stein“. Wie bei allen Ausstellungen von ihr, ist der didaktische Stellenwert und der kulturphilosophische Hintergrund von Bedeutung, wenngleich die Arbeiten immer auch ohne Mediation Bestand haben.
Anlaß oder Impuls zu dieser Ausstellung ist das wunderbare Buch von Svetlana Boym, Professor für slawische Sprachen in Harvard: „In the Future of Nostalgie“. Die Spannung zwischen den Zeitbegriffen läßt einen ahnen, dass wir als Subjekte und als Gesellschaft die verschiedensten Erlebnisse mit der Zeit suchen, von der wir nicht genau wissen, was sie ist und wo. Einen Ort zu finden, der Zeit ist. Aber physikalisch gibt es die Zeit ja nur als Raumzeit, das funktioniert aber nicht, weil wir nur Orte der Vergangenheit kennen. Während physikalisch die Zeit sich nur vorwärts in die Zukunft bewegen kann – das ist der unbelehrbare Zeitpfeil – empfinden wir als Subjekte der Zeit (ihr unterworfen) eine ganze Reihe von Zeiträumen, die den Gesetzen Chronos´ zuwiderlaufen, sie ergänzen, mit kollektiven Träumen schmücken und verzerren.
© URKERN 2021 / Michael Wüst
Die Geister, die ich rief. Gefahren der Nostalgie
Nostalgie ist, wie Boym mit nóstos (Rückkehr) und álgos (Sehnsucht) zeigt, selbst als nachgriechische Zusammensetzung ein nostalgisches Griechenwort. (Immer sehr gut, wenn das Wort selbst spricht und keinen Redner braucht.) Der Schweizer Arzt Johannes Hofer untersuchte im 17 Jahrhundert Soldaten seiner Zeit mit schweren Melancholien wie Insommnia und Anorexia, und ersetzte das seiner Meinung zu schwache Wort Heimweh durch die Nostalgia, die als Krankheitsbegriff in der Ätiologie während der Napoleonischen Kriegen häufiger wird. Seit dem 19. Jahrhundert bezeichnet Nostalgie zunehmend eine durch die Beschleunigung der Moderne destabilisierte Gesellschaft, die sich nach anderen Ereignisräumen sehnt, die noch einmal später von Nostalgie-Künstlern wie André Heller als Inszenierung zur Verfügung gestellt werden. Gelegentlich wird diese Nostalgie, von der Romantik emporgehoben als „Mal de Siècle“ bezeichnet.
Der Popkulturalist Mark Fisher, der in „Gespenster meines Lebens“ Nostalgie als Utopiebremse im Musikbetrieb beschreibt, entwickelt seine ästhetischen Kategorien im Umgang mit der gesellschaftlichen Raumzeit entlang von Thesen von Jacques Derrida, vor allem aus dessen Vorträgen „Marx´ Gespenster“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
© URKERN 2021 / Michael Wüst
In beiden Ansätzen – und das gilt für alle Arbeiten der Ausstellung -wird Verlorenheit in den Inszenierungen der Nostalgie identifiziert. Bei Svetlana Boymin geschieht das in einem Niemandsland aus der Superposition von „Heim“ und „Ferne“. Man denkt auch an das „Weit von wo“ der jüdischen Emigrationen, aller Vetreibungen. In beiden Ansätzen erkennen wir aber auch die restaurative, verschleiernde Energie der Nostalgia, ihre lähmende Kraft die Wiederkehr nicht eingelöster Utopien aus der Vergangenheit zu verhindern.
Dies geschieht in (Themen)komplementären und (Themen)dissonanten Bildern in dem Video von Eli Cortiñas, „Not Gone With The Wind“ und ist nachfühlbar in fotografischen Verlorenheiten von Özlem Günyol, Mustafa Kunt, Göksu Baysal und Ayzit Bostan.
Diese Ausstellung und das Thema ist ein Denkanreiz für Kulturpersonal jeder Art, vor allem für die, die es sich während der Pandemie mit der Opiumpfeife der Nostalgie heimelig gemacht haben.
Dies geschieht in (Themen)komplementären und (Themen)dissonanten Bildern in dem Video von Eli Cortiñas, „Not Gone With The Wind“ und ist nachfühlbar in fotografischen Verlorenheiten von Özlem Günyol, Mustafa Kunt, Göksu Baysal und Ayzit Bostan.
Diese Ausstellung und das Thema ist ein Denkanreiz für Kulturpersonal jeder Art, vor allem für die, die es sich während der Pandemie mit der Opiumpfeife der Nostalgie heimelig gemacht haben.