Siedler, was sie bewegt, was sie bewegen
Das Werksviertel-Mitte versammelt die unterschiedlichsten Menschen. Künstler und Lebenskünstler, Denker und Philosophen, Anpacker und Müßiggänger, Musen und Musiker, Kreative und Freigeister. In unserer Reihe Ich bin Siedler stellen wir einige dieser Persönlichkeiten vor und gehen der Frage nach, was diese Menschen bewegt und was sie im Werksviertel-Mitte bewegen.
Der Maler Wladimir Schengelaja ist schon seit den ersten Tagen des Kunstpark Ost mit seinem Atelier auf dem Gelände zuhause. Nun ist er in ein neues whiteBOX-Atelier ins WERK3 gezogen. Wie umfangreich und vielfältig das Werk des Malers Wladimir Schengelaja ist, zeigte sich bereits vor einigen Jahren in einer großen Ausstellung der whiteBOX. Seitdem ist das Werk des unbeirrten Malers unaufhörlich weitergewachsen, vor allem in diesen Tagen, wo er zusammen mit seinem Freund und Kollegen Volker Behrend Peters in ein Atelier der neuen whiteBOX im neuen WERK3 umziehen konnte.
Der unprätentiöse Arbeiter mit dem listigen Humor legt keinen Wert auf selbstverliebten Künstlersprech und gibt keine Einblicke in irgendwelche Merkwürdigkeiten eines Künstlerlebens. Er malt, während andere Projekte entwerfen oder in „Labs“ an Prozessen ihrer Künstlerseelen teilhaben lassen. Wittgensteins Satz aus dem Tractatus logico-philosophicus passt ganz gut zu ihm: „Worüber man nicht sprechen kann. darüber muss man schweigen.“ Oder ist es noch anders? Wie oft bei Wittgensteins lapidaren Sätzen, lohnt es sich genauer hinzuschauen. Denn: Was für eine Art Kommunikation ist das Schweigen über etwas? Ist es vielleicht doch beredter als die bloße Stille?
Schengelajas Bilder sind voll beredten Schweigens. Aber er ist nicht wie Marcel Proust „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Und kann Zeit überhaupt verloren gehen? Vielleicht vergeht sie ja nicht einmal. Der Rückschluss von der menschlichen Vergänglichkeit auf die Zeit selbst ist allzu menschlich. Schengelaja findet in Selbstreflexion und Introspektion, in lächelnder Weltferne und gleichzeitiger Öffnung Archive, Szenarien, Schichten, wo die Zeit bezeugt, da gewesen zu sein, um sich damit als Schimäre wieder in Szene zu setzen.
Konsequenz und Umfang seiner Arbeit erlauben in der Gesamtschau, besser gesagt, sie nötigen den Betrachter sich auf sanfte Weise einem dunklen Leuchten des Verborgenen, einem Numinosen, vielleicht auch einem höheren Sarkastischen in seinen Bildern zu stellen. Es beginnt mit dem besonderen Licht von den Höhen des Kaukasus herab zu den Ufern Suchumis, Hauptstadt Abchasiens, wo Schengelaja sein Studium aufnahm und später in Tiflis weiterführte. In München Stranderinnerungen. Im subtropischen Klima an der Küste des Schwarzen Meers repräsentiert das bekannte dreieckige „Daiquiri-Cocktailglas“ einen Touch dekadenten Lebens in warmen graugrünen Tönen. Es herrscht ein elegantes ganz und gar körperlich gewittriges Licht. Bilder aus den letzten Tagen in Abchasien, Anfang der 1990er Jahre.
Völker und Sprachen des Kaukasus, Schmelztiegel der Kulturen seit der Antike
Wladimir Schengelaja mit dem gewichtigen Zweitnamen Iljitsch kommt 1996 auf das Gelände des damals gerade gegründeten Kunstpark Ost. Er bezieht ein Atelier im WERK9, das als riesige Flohmarkthalle genutzt wird, neben Loomit, der zu dem Zeitpunkt bereits so etwas ist wie der Godfather of Graffiti. Schengelaja war mit seiner Frau Nora und der 14jährigen Tochter Julia 1993 in München angekommen.
In der Heimat Abchasien hatten sich die langjährigen Konflikte zwischen der georgischen Nationalbewegung und den selbstbewussten, alteingesessenen Abchasen, die erstmals genannt werden in der vorchristlichen Kolchis-Kultur, bereits zum offenen Krieg ausgeweitet. Das kleine Land südlich des Kaukasus, am nordöstlichen Teil des Schwarzen Meeres gelegen und mit subtropischen Klima gesegnet, war am 28. März 1921 von der kaukasischen KPdSU zur Sozialistischen Sowjetrepublik erklärt worden.
Ungefähr 1000 km² kleiner als die Oberpfalz, war dieser winzige Punkt auf der Karte Zentralasiens der Schoß der griechisch beeinflussten Kolchis-Kultur der Bronzezeit (ca. 1600-800 v. Christus), und in der Folge immer wieder geprägt von Spannungen, aber auch von der friedlichen Koexistenz verschiedenster Ethnien und Sprachgruppen.
Dem von den USA in den 1990er Jahren geschürten Expansionswillen der Georgier, die im Gegensatz zur Sowjetunion und auch der nachfolgenden Russischen Föderation Abchasien die Autonomie absprachen, stellten sich neben den Abchasen auch ansässige Griechen, Ukrainer und Armenier entgegen. Selbst Tschetschenen waren auf Seiten der Unabhängigkeit der kleinen Republik, wie das Engagement des bei uns als Topterroristen geführten Schamil Bassajew zeigt.
Zu den Völkern, die dieses Gebiet schon während der Bronzezeit, in der Kolchis-Kultur, zusammen mit Hethitern (Hatti) und Griechen besiedelten, wovon Skulpturen ab 1500 vor Christus zeugen, zählen auch die „Abchasier“ und die Migrelen oder „Mingrelier“ der kaukasischen, kartvelischen Sprachgruppe.
Die Argonautensage berichtet, dass in dieser Gegend der seltsame Brauch bestand, die Leichen von Männern, die vom Blitz getötet wurden, an Bäumen aufzuhängen. Eine offensichtlich gewittrige Gegend. Die mythischen Griechenheroen Theseus und Herakles trieben lange vor Troja und Homer ihr Unwesen am Schwarzen Meer und vergnügten sich auf den Planken ihrer Schiffe mit den stolzen Phrygierinnen, den Amazonen, die wir heute in den kurdischen Soldatinnen wiederzuerkennen glauben.
Neue Amtssprachen, Sprachreformen, ganze Reiche verschwinden wieder in den zerklüfteten Tälern
Wer auf den Gipfelhöhen des Kaukasus steht und weit nach Mesopotamien blickt, wo im heutigen Irak der Turm von Babylon Gott veranlasste, den Menschen die Sprachenvielfalt zu schenken oder zum Ararat, dem größten Berg der Türkei, wo Noah mit der Arche gelandet sein soll, wer hinabgleitet zu den Ländern rund um das Schwarze Meer, der wird hineingezogen in einen Webstuhl mannigfaltigster Sprachen und Dialekte, Völker und Stämme und findet sich irgendwo auf dem Teppich einer kaukasischen Erzählung, die sich sanft und voller Schönheit in die Täler und auf das Land gelegt hat.
In den hohen Tälern Georgiens haben sich in den kleinen Dörfern seit tausenden von Jahren an die 23 Dialekte der aramäischen Basissprache erhalten, die von den Bevölkerungen wechselseitig nicht oder kaum verstanden werden. Neben dem Aramäischen färbten die Turksprachen, Indogermanisch, Iranisch und Griechisch diesen Teppich. In der Zeit des Osmanischen Reichs überdeckte die arabische Verwaltungssprache, später wollten die Lateinisierungskampagnen des Leninismus und Stalinismus den wilden Teppich nach westlichem Alphabet durchbuchstabieren, was aber aufgegeben wurde und schließlich durch Kyrillisch ersetzt wurde.
Was den Ideologen der KPdSU als kulturelle Rückschrittlichkeit erschien, erscheint uns heute im lateinisierten Westen langsam rückläufiger industrieller und wissenschaftlicher Dominanz als fruchtbare, kreative Vielfalt, vielleicht gerade in Zeiten einer kulturellen Erosion, da der Smartphonismus mit seinen Bildchen und Emoijs in die Sprachen einsickert. In der Bildsprache seiner tiefen Hintergründe liegt etwas Inoffizielles, der Hintergrund der Bilder ist Underground.
Wladimir Schengelaja ist Migrele, Mingrelier wie es wohl ethnologisch heißt. Ihre Sprache, eine der ältesten des Kaukasus, kommt nicht nur in Abchasien vor, sondern auch in Georgien. Sie wird von einer halben Million Menschen gesprochen und hat keine Schriftform. Er ist der Sohn eines Landschaftsmalers, der in dessen Werkstatt und Atelier mit Freunden Daiquiris nach russischem Rezept trinkt und Beatles-Songs mit selbstgebauten E-Gitarren und Verstärkern nachspielt, die aus geklauten Parteilautsprechern für Aufmarschbeschallung zusammengelötet sind.
Er ist Kind der kyrillischen Sozialisation. In seinen Bildern erklingt jedoch tief im Hintergrund ein dunkles, reiches Cluster. Kein mythologisches Raunen, wie es unser 19. Jahrhundert mit Nietzsche, Wagner bis Heinrich Himmler kennt. Die Stille seiner Essenzen entwickelt sich in einer gefühlten Trajektorie hinter das Bild. Mal mit pastöser Körperlichkeit, mal dünn lasiert, evoziert er einen schweigend numinosen Hintergrund. Mal dick mit öligen Pinselspuren, mal streng mit schwacher Kraft überdeckt, ahnt man Meldungen versunkener Figuren und Zeichen.
In der Tiefe der Bilder, in dunkler Entropie lässt sich nur ahnen was Form werden kann
In der Tiefe seiner Bilder aus der Reihe „Blac Sea“ meint der mittauchende Betrachter im Dunklen den Flossenschlag des Unbekannten zu erkennen. Nicht deutlicher. Kein Leviathan, kein Moby Dick von Herman Melville formt sich daraus, sondern es bleibt eine versunkene enigmatische Information in einem dunklen Zustand der Entropie vor der Ausbildung zu Gestalt und Form.
Schmerzhaft skurriler Humor seiner Baschka-Köpfe
Seine „Baschkas“ – übersetzen wir sie mal als „Köppe“ – blicken aus den Bildern, als kämen sie aus Zeiten vor Entdeckung des Spiegels, ohne Wissen um ihr Gesicht, in fazialer Unbewusstheit. Mit sinistrem Humor hat Schengelaja die Gesichter in stets fragender Haltung verbogen, verzerrt, manchmal mit Strichen skarifiziert.
Er vergisst die Nase oder das ganze Gesicht und manche(r) Baschka, über ein halbwegs ordentliches Gesicht verfügend, sieht aus, als wäre er/sie lange Jahrhunderte unter Schlick und Sand gelegen. Die Schrift ist eine Barrikade, ein Sperrgitter vor der Wahrheit. Ein kleiner blauer Fleck dazwischen ist der Himmel.
In den skripturalen Anascha-Bildern wirkt im Vordergrund eine Schrift wie eine Barrikade, eine Absperrung. Durch das literale Gitter, das an die mesopotamische Keilschrift erinnert, kann man auf etwas blicken, was einen Ausschnitt normalen Lebens darstellen mag. Irgendetwas, was monochrom vielleicht als Traumstrand oder Traumhimmel identifiziert werden könnte.
Einmal, von einer fernen, schräg stehenden Sonne beleuchtet, scheinen die metallen wirkenden Versalien massiv jede Demonstration für größeren Durchblick verhindern zu wollen. Der Blick auf die Wahrheit hinter der Barrikade ist verwehrt. Wirklichkeit überwältigt Wahrheit. Die Sprache also ein Gitter, das den Blick auf die ganze Wahrheit verstellt? Weder kann das auf Dauer die Sprache der Ideologie, noch ist eine ganze Wahrheit hinter ihr verdeckt. Eine Ahnung von Wahrheit, ein Abdruck, eine Signatur der Zeit. Soll man darüber reden oder soll man darüber schweigen? Besser schweigen und es in der Meditation von Schengelajas Bildern – nein nicht suchen: sondern es sich finden lassen.
http://wladimirschengelaja.com/vita
Am 3. Juli 2021 soll im Rahmen der Brucker Kulturnacht 21 (Dauer: 4.-19 Juli) eine Ausstellung mit Werken von Wladimir Schengelaja und Volker Behrend Peters stattfinden.
Titel: Feedback. Die Architektur der Wahrnehmung im Dialog.
Welches ist dein Lieblingsplatz in der Stadt?
„Das ist ein bisschen schwer. Vielleicht ist es mein täglicher Kreis. Man hat ja immer einen Weg von Zuhause in die Arbeit und wieder zurück. Immer. Ich fahre gerne mit dem Fahrrad durch die Stadtmitte, wo es ein bisschen schicker ist. Ich mag aber auch das Halbindustrielle hier. Das ist sehr melancholisch. Da fühle ich mich wie zuhause. Hier trifft man authentische Menschen. Manchmal zornige Menschen. Ich mag das. Deswegen bin ich auch seit zwanzig Jahren hier. Wenn man will habe ich zwei Zuhause.“
Was gefällt dir an deiner Stadt am meisten?
„München hat die optimale Größe. In kleinen Städten wie Tübingen oder Bamberg mit den vielen Fachwerkhäusern komme ich mir immer vor wie im Märchen. Ich kann mir nicht vorstellen in so einer Stadt zu leben. München ist auch ein bisschen imperial. Ich mag das. München kann nicht New York oder Berlin sein. Hektisch, brutal oder kontrastreich. München ist eher gleichmäßig.
Was magst du an deiner Stadt nicht so gern? Was fehlt dir?
„Eigentlich nichts. Eine Stadt wie Berlin zieht mich mit ihren Möglichkeiten schon an. Aber dann bin ich doch immer wieder gerne hier.“
Zu welcher Zeit bist du am liebsten in der Stadt unterwegs?
„Im August. Ich liebe Hitze. Dann gehe ich mit meiner Frau barfuß durch die Stadt.“