Beim BOXenstopp #10 fand mit der Berliner Künstlerin Alex Lebus zum zweitenmal eine von „Hahnemühle“, dem traditionsreichen Hersteller von Feinstpapier (gegr. 1584), unter dem Label „d´mage, Fine Art Print Specialists“ ausgeschriebene Residency im Gastatelier der whiteBOX statt. In Kooperation mit der whiteBOX arbeitete bereits letztes Jahr im Sommer mit Nadja Schöllhammer eine Papierkünstlerin und führte am 23. August vor echtem Publikum durch die Arbeiten, die während ihrer Zeit im Atelier entstanden waren.
Der Sprung durch das Zeitfenster
Um den Abstandsgeboten unserer Zeit gerecht zu werden, wurde diesmal Interessierten auf der Seite der whiteBOX die Anmeldung zu einem Zeitfenster angeboten, innerhalb dessen ein „Speed Dating“ von 10 Minuten, exklusiv und „intim trotz Maske“ mit Alex Lebus ermöglicht würde. Also ein Speedy Date. Man ist versucht sich für die Zukunft das Überleben der Zivilisation als eine gleichmässig gelassene Mischung von Abstand und Geschwindigkeit vorzustellen. Einer Sicherheit durch ständigen Standortwechsel, immer unter der Maßgabe gleichbleibender Distanz aller zu allen. Aber nicht die Absurditäten von Phantomregimen (damit ist keine Leugnung der Pandemie gemeint) wurde unser Thema, sondern das, was Alex Lebus als ihr Thema bezeichnete: „Häutungen.“
In einem Gespräch von einer Stunde, in dem die Zeit herrlich verflog, Zeitfenster hintereinander in Reihe aufflogen, drehten wir uns schnell um Literarisches und das Wort bis zum Logos der Scholastiker. Die Assoziationen feuerten wie auf einer elektromagnetischen Welle. Der Hundertjährige, der durch das Zeitfenster sprang und verschwand. Nein, „wie eine Zwiebel“, sagte sie. Peer Gynt? Der desillusionierte Held Hendrik Ibsens, der sich Schicht um Schicht schält, um sein Innerstes leer vorzufinden? Und allein fand, daß sein Herz in Solvejks Brust schlägt.
Botschaften in der Tiefe des Spiegels
Häutungen, Schichtungen, Schichten, Geschichte, das Wort, der Logos. In diesem semantischen Trampolin sprangen wir. Dort drehen sich die Spiegelarbeiten von Alex Lebus und senden einsame Reflexe. Die Materialprävalenz hat ihre Gründe in ihrer Ausbildungs-Vita. In Magdeburg, ihrem Geburtsort, beginnt sie als 20jährige mit Interface – und Industriedesign, kommt sechs Jahre später an die Hochschule für Bildende Künste Dresden und wird Meisterschülerin bei Eberhard Bosslet. Es folgen für ein Jahr die Manchester School of Art und mehrere Stipendien und Residencies in Malmö, Dresden, Berlin und wieder Manchester. Glas und Metall, harte Materalien in Räumen arrangiert, die kühlästhetischen Gesetze des Designs nicht verleugnend.
Der Spiegel ist seit dem Sturz des Narkissos ins Wasser seines Vaters, des Flußgottes Kephissos, einem ersten Unfall beginnender Selbstreflexion, in seiner Glasausführung erst seit dem 19. Jahrhundert in allen Haushalten. Von Bronzespiegeln weiß man seit etwa 1000 vor Christus, jener Zeit, die Karl Jaspers als Achsenzeit ausmachte. Zur Zeit, als Homer die Ilias schrieb, gibt es den Blick ins eigene Gesicht nur an Fürstenhöfen. Sloterdijk weist darauf hin, dass Euripides Klytämnestra „…nach Agamemnons Abreise selbstgefällig in den Spiegel blicken (läßt) und ihre geflochtenen Haare mit Schmuck behängen (läßt), wie um ihren Ehebruch und das spätere Verbrechen vorzubereiten.“ ( Peter Sloterdijk, Zwischen Gesichtern, Sphären, Band 1)
Der Spiegel als Beginn der Selbstreflexion?
Wer ist die Schönste im ganzen Land? Für den griechischen und nahöstlichen Mann hingegen gilt nach Sloterdijk im selben Band: „Die anfängliche Erfahrung der Gesichtlichkeit beruht auf dem elementaren Sachverhalt, daß menschenanschauende Menschen ihrerseits von Menschen angeschaut werden und vom Anblick des anderen her auf sich selber zurückkommen.“ Der Spiegel verkürzt sozusagen einen Prozeß der menschlichen Interfazialität und findet seinen Höhepunkt in den dauergrinsenden Menschen der Erfolgswelt, denen jede soziale Kommunikation abhanden gekommen ist. Und wie die Literatur sich des Themas seit Platon annimmt ( Jorge Luis Borges „Der schwarze Spiegel“, Arno Schmidt „Schwarze Spiegel“), so ist es auch Lebus´ faustisches Interesse, die Hintergründe des Spiegels zu finden. Als Botschafter dafür sendet sie Wörter, wie in ihrer Arbeit über die Vexierungen der Wörter „Me“ und „We“.
Papier, das Thema der Residency in der whiteBOX, die nach drei Wochen am 14. August endete, spiegelt nicht. Es ist opak, aber atmet, saugt auf. Alex Lebus hat in den drei Wochen eine sehr eigene, überraschende Bearbeitung entwickelt. Die Stücke, lachsfarben, weiß, grau hängen mit dem weichen Faltenwurf früher Renaissancemalerei wie Stoff an der Wand. Ausgezogenes, Getragenes. Spuren.
Man denkt unwillkürlich an das Turiner Grabtuch. Wie sie das macht, hat sie nicht verraten. Oder wir sind nicht dazu gekommen, weil wir weiter durch Zeitfenster sprangen von Fra Angelico bis Caravaggio, El Greco, Anselm von Canterbury und auch kurz zu Chris Derkon, das muss man zugeben.
Autor: Michael Wüst