Mit einer Neuauflage des Winterklangfestivals „Out Of The Box“ (10. Januar bis 2. Februar 2020) nach der Begeisterung des letzten Jahres, bestätigt sich eindringlich der programmatische Weg der whiteBOX mit ihrer Leiterin Martina Taubenberger: Archaik und Zeichensysteme, Schöpfungs-Status-Quo und Arten seiner Lesart.
Dem Regime der Natur oder vormals der Wildnis trotzend, entstanden menschliche Kultur, Magie und Religion in Klängen und Zeichen, Architektur und Gebärde. Aber auf dem langen holprigen Weg der Selbsterkenntnis des Kosmos unter Zuhilfenahme menschlicher Sinne und eines als Erstkredit eingehauchten Verstandes treiben nun Gesellschaft und Natur, Zivilisation und Schöpfung auf einen dramatischen Kipp-Punkt zu.
Zur Augenfälligkeit und Offensichtlichkeit dieses Titanic-Kollisionskurses mit der Schöpfung, gehören aber auch die „Fensterredner des Internets“ (Sascha Lobo). Die Leugner aus Leidenschaft. Das Internet verleiht ihrer Nichtigkeit eine Stimme und ein Kollektiv. Vielleicht gilt da ja da eben das alte Credo: Wo die wissenschaftliche Ratio nicht weiter kommt, muss die Kunst übernehmen.
Und so stehen Themen der Digitalität beim Festival ebenso auf dem Programm, wie eine Anamnese der technischen Kultur: Der technische Homo Homunculus im Drama des Fortschritts weg von der Schöpfung, in einem Drama, an dessen Peripetiepunkt die Schöpfung im Erinnyengewand wieder entgegnet. Soweit im Trend der Apokalypse.
ICE MUSIC – Der Perkussionist Terje Insungset als Schamane des Wasserwissens
Deshalb steht wieder das Wasser am Beginn. Das Trennen des Himmels von den Wassern, so oder ähnlich steht es auch weltweit in allen Schöpfungsmythen, in den Kosmogonien. Wasser ist fantastisch, in seiner Codierug kaum faßbar. Nur überhaupt einmal auf der Welt (im Kosmos?) führt die Kombination von zwei Gasen zu diesem universellen Lebensgeber, diesem durch die Ozeane globalen Datenspeicher. Wasser sammelt Daten, registriert die Umwelt und speichert Informationen.
Dieselbe Information ist an den entgegengesetzten Küsten eines Ozeans ablesbar. Von Genua bis zur Küste der Bahamas ist im Wasser codiert, wozu Kolumbus Monate brauchte, um zu der vermeintlichen Erkenntnis zu gelangen, er sei in der Mündung des Indus angekommen. Die Informationen, das Wasserwissen, im Eis gespeichert, erklingen zu lassen, das hat sich der Perkussionist Terje Isungset zur Aufgabe gemacht. Eine Art musikalischer Schamanismus.
Mit seinen „Icestruments“ und seiner EISMUSIK kommt er bereits das dritte Mal zur whiteBOX und wird am 10. Januar (bis 12. Januar) auf dem Dach des WERK3 zwischen den Eisstelen des Bildhauers Eric Mutel wieder das Festival eröffnen. Letztes Jahr hat das Wetter gut mitgespielt. Die zarten Eisharfenklänge und klagenden Rufe aus gefrorenen Rolandshörnern wurden von Wind und Schneegestöber in die Winternacht mitgenommen. Arktische Melodien im Himmel über München.
Die musizierenden Aquarien der dänischen Gruppe AQUASONIC
Noch einmal können die Münchner auch das Aquariumskonzert der dänischen Gruppe Aquasonic erleben. Diesmal im WERK7, am 31. Januar und 1. Februar, jeweils 20.00 Uhr und bei einem Kinderkonzert am 2. Februar um 11.00 Uhr. Wer es letztes Jahr versäumt hat, wird im WERK7 mit seinen 700 Plätzen sicher eine Karte bekommen. In fünf Aquarien singen und spielen auf eigens entwickelten Instrumenten die Akteure.
Allein schon das Bild der durchleuchteten Tanks mit dem fantastischen Interieur führt uns in eine Welt vergangenen Futurismus, in ein nostalgisch bezaubertes Gefühl historisch inszenierter Sci-Fi-Vergangenheit. Man fühlt sich 20.000 Meilen unter dem Meer eingeladen von Kapitän Nemo, in empirehaft wirkende Kabinette eines ersten eleganten U-Boot-Salons, in eine Zeit, als Technik romantisch sein durfte.
König Ludwig II. hätte dort einen Walkürenritt auf Riesenseepferden inszeniert. Man ist angesichts dieser romantisch schönen Installation versucht, darüber zu träumen, wie Wagner aus versunkenen Tuben klingen könnte, Isoldes Liebestod aus dem Mund eines Belugawals, der Einzug der Gladiatoren oder ein Marsch von Chatschaturjan. Solche oder ähnliche Träumereien kindlicher Begeisterung entstehen noch bevor das Konzert überhaupt angefangen hat. Oder die Vexations von Satie? – Moment, aber das führt uns zum möglicherweise größten Spektakel dieses Festivals.
PIANO VERTICAL – Ein Flügel hängt über der Baustelle des neuen Konzerthauses
Wahrhaft luftig, das Element der Luft inszenierend, ist, was uns die Schweizer Produktion PIANO VERTICAL verspricht: Am 24. und 25. Januar, jeweils in aller Hergottsfrühe um 6.45 Uhr, also bei Sonnenaufgang, wird Pianist und Komponist Alain Roche kopfüber an einem Flügel, der an einem Kran über dem Gelände hängt, wo das neue Konzerthaus gebaut werden wird, sitzen und live die Kompostion „Chantier“ spielen.
Dazu sind Baustellengeräusche arrangiert, die das Publikum über Kopfhörer in Liegestühlen zugespielt bekommt. Der Flügel in den Strahlen der Morgensonne – falls er die Sonne verdeckt, würden wir von einer Flügelfinsternis sprechen – ist auch in seinem Innerern von der Schwerkraft unabhängig. Die einzelnen Hämmer der einzelnen Tasten werden von einer eigens entwickelten Mechanik zurückgezogen und fallen nicht wie beim irdischen Flügel aufgrund der Schwerkraft zurück.
Das über 9 Stunden dauernde Pianostück „Vexations“ von Erik Satie wird allerdings nicht gespielt, das soll schon einmal versucht worden sein, allerdings an einem Flügel, in horizontaler Lage hochgezogen. Ein Ballett der Kräne, was zu diesem unglaublichen Spektakel passen würde, hat es übrigens auch schon einmal gegeben.
Im Februar 2014 drehten sich auf einer Großbaustelle der Seestadt Aspern bei Wien 40 illuminierte Kräne zur Musik von Florian C. Reithner in einer Mischung aus klassischer Orchestermusik, Ambient und elektronischer Musik. Ein „Out of the Box“-Thema. Die Musikalität einer Baustelle zu untersuchen, wäre jedenfalls ein eigenes spannendes Thema. Was für Jean-Phillipe Rameau die Vögel und für Leoš Janáček die Geräusche von Bahnhöfen als Quelle der Inspiration waren, könnten auch Baustellenkänge sein.
Insofern ist ganz logisch, dass zum Himmelstürzenden Flügel, aufgefangen von einem Kran, die Stimmen der Baustelle mit erklingen, quasi als Exposition der Zukunft des Geländes. Zwischen diesen drei Großereignissen finden sich eine Vielzahl von vertiefenden und ergänzenden Veranstaltungen, auf die im einzelnen noch extra eingegangen werden wird.
Auf jeden Fall ist es fazinierend wie auf der Grundlage der Geländeverwandlung Werksviertel Mitte in diesem Festival der Blick auf Schöpfung und Kultur und den daraus heraus diversifizierenden Zeichensystemen entwickelt wird, aufregend, berauschend, manchmal verstörend. Auf dass die Kunst übernehme, wo die Erkenntnisse der Wissenschaft nicht mehr greifen. Das ist eigentlich ziemlich romantisch.
Das Festival Out Of The Box wird unterstützt durch Audi ArtExperience, die Beisheim Stiftung sowie das Werksviertel-Mitte. Weitere Informationen unter www.whitebox.art und www.OutOfTheBox.art.
Autor: Michael Wüst