Nach fast elf Jahren kommt es am 12. April wieder zu einer Begegnung von Tocotronic und der TonHalle. Die Vier vom Stern einer ungeborenen Popmusik bringen auf ihrem Orbit diesmal schlicht „Die Unendlichkeit“ (Januar 2018) mit. Es ist ihre 12. Arbeit, man mag sie gar nicht Compact Disk nennen. Eher Virtual Disk. Oder Fluid Disk. Mehr denn je scheint diese Musik ermittelt zu sein aus dunkler Energie und stellarer Schwacher Kraft, seltsam konfiguriert um Autobiographisches, das ohne Masse flüchtig und doch so sehr vorhanden ist.
Was mit ersten Auftritten 1994 in der Hamburger Roten Flora begann, die erst kürzlich beim G20-Gipfel wieder im Brennpunkt stand, hat sich auf eine so schwer deutbare Weise dennoch so bemerkenswert fortgeschrieben, dass Tocotronic zur Ikone der Feuilletons wurde. Und es ist ja nicht so, dass man Dirk von Lowtzow vorwerfen könnte, er würde bewußt verrätseln, orkeln oder raunen. Er ist weder ein Stefan George des Pops, noch ein Sven Regener der verlorenen Zeit.
In Tocotronics Wahrheit der Klischees erkennen die Gesichtslosen ihre Originalität. Noch Ephemereres ist allerdings nun vorbei. Vorbei sind die Zeiten der Manifeste, Theorie-Referenzen und jugendbewegten Slogans („Ich Möchte Teil einer Jugendbewegung sein“). Sind es also jetzt die Erinnerungen, die wir alle haben – von der Flucht aus der Provinzhölle mit Löchern in den Jeans in die Arme der Großstadt? (Ausgerechnet Du Hast Mich Gerettet). Ist es etwas Persönliches wie der Rap vom Bordstein zur Skyline? Wer glaubt schon an Credibility? Tocotronic sicher nicht.
In der Unendlichkeit beginnen deshalb die Songs auch nicht mit einem Ich, das Persönliche der Songs besteht eher eine Summe der Anonymen, die sich auf einem Klischee abbilden mögen. Im geschichtlichen Konstrukt der 80er Jahre seit Punk und Tschernobyl, figuriert sich das lyrische Ich von Tocotronic aus den gleichen Schicksalen anonymer Verwandtschaft. Musikalisch wird das ebenso hintergründig orchestriert mit Musikstilen die zu den Lebensphasen passen. Revue-Passage! Beatles, Orff, Roxy Music, Gitarren-Pop. Es ist wie bei Stanley Kubrick´s „Shining“. Mit Zoom auf das Foto einer 20er- Jahre-Gesellschaft mit Jack Torrence (Jack Nicholson) in der Mitte, erklingt ein Ballroom-Orchester mit „It´s all forgotten now“. Tocotronic sind wie immer zuhause auf doppeltem Boden. Sie sind Alchemisten der Schwachen Kraft mit betörend schöner Unechtheit!
Bild Copyright Michael Petersohn