Mit „selfciety“ ist Benjamin Lantzen in der whiteBOX eine Ausstellung gelungen, die Physiognomien, Visagen der Verlorenheit einer Selfie Society arrangiert, dokumentiert, schon allein indem er sie zitiert.
Einer Self-Society, die sich natürlich gar nicht begegnen kann, weil sie lediglich vereinzelt im Netz addiert ist. Das zitierte Selfie, in den Kunstraum verbracht, überhöht, respektive entblößt sich als Dokument global schwereloser Ichferne und Ortlosigkeit, hinter den Ikonen der Selbstvermarktung bietet sich kein Weg zu den Originalen an. Dies ist mein Selbst!
Die in die Welt blickenden digitalen Golems starren uns an oder halten uns gar einen Spiegel vor. Ästhetische Fragen hängen in der Luft, die technische Entwicklung rast davon. Die Postmoderne ist vorbei. Sie soll dabei, will man den Postulaten ihrer Protagonisten, Philosophen und Künstler glauben, nicht historisch geworden sein, denn Historizität, Aufbewahrung in der Asservatenkammer der Geschichte, ist mit ihr per Grundvoraussetzung nicht zu machen. Demgemäß vermuteten ja einige unter dem Eindruck von Francis Fukuyama das Ende der Geschichte, der Popkulturalist Marc Fisher behauptete das Verschwinden der Zukunft und namhafte Ökonomen prophezeiten dem Neoliberalismus sein Fortbestehen nach dem Weltuntergang. Nicht so einfach für junge Künstler.
Virtuosität ist längst Kunstkacke, Provokation, Destruktion sind Rahmenprogramm für Spaßevents von Versicherungen und Hochfinanz, solange ihre Repräsentanten nicht tatsächlich selbst Opfer werden, und – ja: bloß nicht ertappt werden beim historisch Werden. Unappetitlich. Es gibt Bewegungen, die nicht publik gemacht werden, auch nicht über irgendwelche Social & Smart Medias 4.0 und aufwärts, die aber von Spionen unter den Popkulturalisten ausgemacht werden: „Normcode“ zum Beispiel. Sich möglichst, aber dabei trotzdem ungezwungen schlecht anziehen, Filterkaffee trinken, langweilig sein, Wollmützen auch beim Duschen nicht absetzen.
Der Medienkünstler und Kurator Benjamin Lantzen hatte im Bewerbungswege des „Open Calls“ über das Internet sieben Künstlerinnen und Künstler ausgesucht, die zum Thema ihre Arbeiten abgaben. Auf diese Weise konnte er bewusste und unbewusste Arbeiten kombinieren. Das Vernissagen-Publikum entpuppt sich als Teil der Inszenierung bei selfciety.
Die sehr dunkle whiteBOX ist durch schwarze und weiße Trennvorhänge unterteilt, die cool flanierenden Connaisseure und Connaisseusen bilden Grüppchen an den einzelnen Selfie-Positionen und zelebrieren einen gekonnten Überbietungswettbewerb mit den Exponaten in gepflegter Langeweile- selfciety itself!
Die Bildschirmumgebung der Besucher mit ihren Physiognomien und Visagen, beiläufig von den Besuchern zu Kenntnis genommen, stellt so insgesamt eine ironische Atmosphäre bei selfciety her. Stephanie Mayer hat mit „Tweet up your Life“ (2011) durch vier Monitore, die einen Kubus umschreiben, einen solchen Raum geschaffen. Vier Schauspieler auf den Screens sprechen typische Internet-Tweets nach, die auch als schmale Streifen wie Posts erscheinen. Sie scheinen zu den Besuchern Kontakt aufzunehmen, die ihrerseits Tweets absondern können, welche sogar mittels eines Spracherkennungsprogramms durch die Bildschirmfiguren in konfektionierter Art und Weise eher ausweichend „beantwortet“ werden können. Schade, dass keine der Stephanie Mayer-Figuren ein Sektglas in der Hand hielt! Bei Gretta Louw´s „The Face-Swap Archive (2017)“ liegen Flachbildschirme und Kabelsalat auf dem Boden. Das Ganze hat etwas von einem digitalen Lagerfeuer.
Der Spaß der Face Swap App liegt darin, dass Gesichter ausgetauscht werden können, während die Kopfform und die Haare des Originals erhalten bleiben. So werden Celebs gerne in pornografische Szenen geswappt. Gretta Louw hat herausgefunden, dass auch Gegenstände wie zum Beispiel Eiskugeln für die Augen in die Gesichter geschmuggelt werden können. Oder es entstehen doppelte Münder, ein über das Gesicht gezogenes Kleid bildet eine unangenehme Maske. Eine seltsame Lagerfeuerromantik, die die Besucher auch nicht dazu verleitete sich rund um das digitale Feuer zu setzen. „I shot the Selfie“ von Eric Clapton 2.0.
In den Bereich der unbewusst agierenden Symptomatik gehört Aurélie Bayads „Regarde Moi“. Im simplen Web-Cam-Stil berichtet sie von ihrer Verletzung, die sie erfahren hat, weil sie zu viele Selfies gemacht hat und sie sich nicht „developed“ hat. Also macht sie jetzt Videos, in denen sie sich räkelt, raucht und plappert und lasziv ein Eis am Stiel isst und wohl feststellt, dass sie weiter nicht nicht „developed“. Was sie selbst als unbequeme Kunst bezeichnet, ist ein Video, das man genauso wenig brauche, wie die Videos anderer gelangweilter Teenager. Aber der Vernissagen-Voyeur ist zäh. Hat so was Ähnliches nicht auch Warhol gemacht?
Direkt erfrischend dagegen, die Bösartigkeit von Ruth Hutters „Grid Girls“ (2007). Sie hat an Motorrennstrecken PR-Hostessen, sogenannte Boxenluder fotografiert, die allerdings mächtig angekotzt dreinblicken. Man hat schon Bedenken, dass das hart an der Grenze des Unzulässigen wäre, bis man erfährt, dass die Künstlerin ihr eigenes, verfremdetes, leicht verquollenes Gesicht mit zu langer Nase und ohne Schmollemündchen in die Logo-bepappten Bodies einmontiert hat. Guter alter Feminismus! Ob er historisch geworden ist? Eine Performance in der selfciety reißt uns aus der trüben Deutungsfischerei.
„Distorted Vanity“ 2016 von mayer + empl, Yves Peitzner zeigt in der Choreographie von Dali Touiti einen Tänzer, der sich in Lasergrafiken bewegt, respektive festgehaltet ist. Der Tänzer ist in jeder Bewegung wie von einem Feuerleitsystem fixiert, selbst im Halbdunkel, werden seine Umrisse auf die Rückwand projiziert, vervielfältigt und vielgezackt verfremdet. An zwei todschicken Stahlcelli stehen Rick Rummler und Manfred Reisser, deren gestrichene und geschlagene Töne ebenfalls die Laserprojektion auf der Rückwand beeinflussen. Der Tänzer, der in Butoh-artigen Bewegungen, Krämpfen und Zuckungen zur Welt kommen will, bleibt gefangen in seinen technischen Abbildungen. Moderne Zeiten. Zuhause erstmal „All by myselfie“ von Whitney Houston.
Mehr Informationen zu den kommenden Ausstellungen sind ganz einfach mit der Werksviertel München App zu ersehen, die Sie hier kostenlos herunterladen können: Werksviertel München App.
Michael Wüst, Svenja Charleen Kitow